B. Gammerl: Untertanen, Staatsbürger und Andere

Title
Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918


Author(s)
Gammerl, Benno
Series
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 189
Published
Göttingen 2010: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
400 S.
Price
€ 58,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Martin C. Wald, Hamburg

Der Weltgeist nimmt immer Umwege. Mahatma Gandhi, zum Beispiel, kam zum Kampf für die indische Unabhängigkeit nicht, weil er in Indien rassische Diskriminierung durch die britische Kolonialmacht oder als Student in London durch die englische Gesellschaft erlebt hätte. Nach der Ankunft in Südafrika, wo er nach dem Willen der Familie weiter als Anwalt arbeiten sollte, musste er von Durban nach Pretoria statt in der ersten Klasse, für die er eine Fahrkarte besaß, im Gepäckwagen mitfahren. Die Kränkung für den gebildeten Inder wuchs, als er im Zuge seiner beruflichen Tätigkeit indische Vertragsarbeiter vertrat, die in Südafrika gedemütigt wurden. Weniger die Rassendiskriminierung als solche war es, die den Juristen empörte – für die schwarzen Afrikaner legte er kein Wort ein –, sondern die Tatsache, dass Inder ungleich behandelt wurden, obwohl sie dem Rechtsbuchstaben nach nicht anders als Engländer oder Waliser Untertanen („subjects“) der britischen Königin waren. In einem diffizilen imperialen Dreieck hatte es die Metropole London nicht verstanden, ethnische Diskriminierungen durch die Kolonialregierung seiner Peripherie Natal gegen Migranten aus seiner Peripherie Indien zu unterbinden.

Der Historiker Benno Gammerl erzählt in seiner profunden Dissertation, für die er 2008 den Friedrich-Meinecke-Preis der Freien Universität Berlin erhielt, diese Geschichte Gandhis nicht. Doch sie illustriert den welthistorischen Atem des Gegenstandes, dessen sich Gammerl da angenommen hat: Wie gingen imperiale Kontexte rechtlich und administrativ mit ethnischer Differenz um? Gammerl greift den britischen und den habsburgischen Fall heraus, was man aber nicht so verstehen darf, dass dort jeweils einheitliche Prinzipien am politischen Werk gewesen wären. Um auf die verschiedenen Ebenen der imperialen Herrschaft zwischen Metropolen (Vereinigtes Königreich), Reichshälften (Österreich und Ungarn), „Dominions“ (Kanada), Kolonien (Indien), Protektoraten (Ostafrika) und „Ländern“ (Bosnien-Herzegowina) methodischen Zugriff zu erlangen, unterscheidet Gammerl drei „Logiken“, die in jeweils spezifischen Mischungsverhältnissen das koloniale Rechts- und Verwaltungshandeln prägten: Die etatistische Logik sorgte sich hauptsächlich um Wehrerfassung und versuchte tendenziell Staatsvolk und Wohnbevölkerung deckungsgleich zu machen. Ethnien spielten keine Rolle. Bei der nationalstaatlichen Logik stand die Integration der Nationsmitglieder im Zentrum, die auch weiter als solche gelten sollten, selbst wenn sie und ihre Nachkommen über mehrere Generationen im Ausland gelebt hatten. Umgekehrt hieß das, dass „Nationsfremde“ nur selektiv ins Land gelassen wurden. In der imperialistischen Logik – nicht nur Gandhi musste es erfahren – wurde selbst innerhalb des Angehörigenverbandes nach ethnischen Kriterien hierarchisch differenziert, was hauptsächlich, aber nicht nur, in kolonialen Kontexten zutraf.

Gammerl entwickelt nun bereits im ersten synchronen Durchgang durch die sieben oben genannten Fallbeispiele oder „Ebenen“, wozu Gammerl die Aus- und Einwanderungsgesetzgebung, die Einbürgerungspraxis, aber auch Wahlrechtsreformen heranzieht, die Leitthese des Buches: Im Habsburgerreich herrschte, geprägt von seiner etatistischen Logik, das Prinzip der ethnischen Neutralität, im britischen Weltreich in seiner imperialistischen Logik das Prinzip der ethnischen Differenzierung. Zwar gingen Kanada und Ungarn in neuer, jeweils nationalstaatlicher Logik nach 1867 eigene (und recht ähnliche) Wege. Doch wo in Cisleithanien in anerkennender Absicht nach personalen Kriterien ethnisch differenziert wurde, so in Indien nach territorialen Kriterien in diskriminierender Absicht. Der britischen Bipolarisierung der Ethnien in „weiß“/“nicht-weiß“ stand die Habsburgische Multipolarität gegenüber. Schließlich ließ sich das Habsburgerreich anders als die Briten in Ostafrika auch im Falle Bosnien-Herzegowina kaum auf eine imperialistische Logik ein: Die minderprivilegierte Position der dortigen Landesangehörigen wurde von k.u.k.-Juristen als normwidriger Zustand eher beklagt. Vorauseilenden Bedenken gegen die Vergleichbarkeit dieser Fälle trägt Gammerl stets in vorbildlicher Weise Rechnung.

Der Autor leistet mit seinem Buch ausgesprochenermaßen einen Beitrag zur Widerlegung der Annahme „einer west-östlichen Dichotomie zwischen politischer Inklusivität und ethnischer Exklusivität“ (S. 355), das sich über Brubaker wenigstens bis zu Meinecke zurückverfolgen lässt. 1 Sicher seien die Unterschiede zwischen einem maritimen Kolonialreich und einem herkömmlichen Kontinentalreich groß: Das britische Reich wuchs im 19. Jahrhundert noch und die dortigen Migrationsbewegungen ließen unterschiedlichere Menschen plötzlicher und unvermittelter aufeinandertreffen, was diskriminierende ad-hoc-Lösungen sicher begünstigte. Doch Gammerl bleibt bei dieser trivialen Erkenntnis auch nicht stehen, sondern sieht die „Regeln für das identitätspolitische Spiel von Vertrautheit und Fremdheit“ (S. 341) maßgeblich mitbeteiligt: Eine imperialistische Machtasymmetrie wie im britischen Fall konnte es im fein austarierten österreichisch-ungarischen Dualismus nicht geben, außerdem war die feudale Rechtstradition des subject (Untertanen) deutlich anfälliger für differenzierende und hierarchisierende Effekte als die staatsbürgerlich-rationale josephinische Rechtstradition mit ihrem Nachdruck auf Gleichheit und Gleichbehandlung. Gammerl bürstet in diesem Zusammenhang gleich noch gängige Vorstellung vom „guten“ ius soli gegen das „böse“ ius sanguinis gegen den Strich. Man dürfe deshalb kein „modernes“ Imperium Britannicum und eine „unmoderne“ Habsburgermonarchie „gleichsam als antipodische Enden einer Imperialitätsskala“ (S. 335) betrachten, sondern die bipolare Modellbildung, so das nachhallende Plädoyer, zugunsten eines offeneren Vierecks zwischen nationalstaatlicher Integration, staatlicher Egalisierung, etatistischer Anerkennung und imperialer Diskriminierung aufgeben.

Ganz wohl ist Gammerl bei dieser Umkehrung der Verhältnisse, nunmehr erschienen also die Habsburger als modern, selbst nicht. Deshalb kreuzt er in einer Anwendung von Foucaults Biomacht-Konzept, grundsätzlich aber im ganzen zweiten diachronen Teil, in dem er die Imperien als Ganzes vergleicht, diesen Eindruck mit einem zweiten: Die Ethnisierung der Politik schritt mit einem deutlichen Bruch um 1900 auf breitester Front voran und ersetzte den Maßstab religiöser, sozialer sowie geschlechtlicher Differenzen, nur dass im britischen Fall die Hautfarbe und im habsburgischen – aus nachvollziehbaren Gründen – die Sprache zum Prüfstein wurde. Während das britische Mutterland politische Partizipationsrechte für die „Weißen“ ausdehnte und mit einer Stärkung imperialistischer Diskriminierungslogik erkaufte, legte der habsburgische Staat nach wie vor ein Netz von Verboten und Verpflichtungen über die Gesamtheit seiner Staatsbürger und konnte auch deshalb darauf verzichten, die ethnische Karte zu ziehen. Soll die Modernität doch sehen, wo sie sich eher zu Hause fühlt.

Etwas überraschend sieht Gammerl die Diskriminierungsmechanismen im britischen Fall sogar noch bis nach 1945 im Wachsen begriffen. Er stärkt darin die Bedeutung der „Semi-Peripherie“, vor allem der Kolonialpolitik in den Dominions, gegenüber dem bislang für imperialistische Politik meist für ausschlaggebend gehaltenen Verhältnis von Metropole und Peripherie. Die nationalstaatliche Logik Kanadas hatte Einfluss auf Großbritannien bereits seit 1867, jene Ungarns auf das deutschsprachige Österreich wenigstens seit 1918. Im imperialistischen Kontext setzte sich im ganzen Weltreich die ethnisch diskriminierende Lesart der südafrikanischen Kolonien durch. Für das unabhängige Indien ein Fanal, waren die Erlebnisse Gandhis in den Zügen Natals 1893 für das britische Weltreich ein Menetekel.

Anmerkung:
1 Rogers Brubaker, Citizenhood and Nationhood in France and Germany, London 1992; Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, Berlin 1908. – In seiner Kritik an deren Ergebnissen steht Gammerl auf den Schultern seines Betreuers Dieter Gosewinkel; Dieter Gosewinkel: Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001.

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11.02.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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